„Auch ich bin ein Mann meiner Klasse“

Christian Baron kommt aus – wie man so sagt – einfachen Verhältnissen. Er ist Arbeiterkind, mehr noch ein Kind von Eltern, die heute als Working Poor bezeichnet werden. In seiner Kindheit erlebte er nicht nur Armut, Ausgrenzung und Mangel, sondern auch häusliche Gewalt. Darüber schrieb der heutige Redakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“ ein Buch. „Ein Mann seiner Klasse“ zeigt, was es heißt, in einem reichen Land arm zu sein, wie schwierig es ist, aus seinen sozialen Verhältnissen auszubrechen, Bildung zu erlangen, aufzusteigen. Und selbst wenn man es schafft, bleibt man selbst doch immer ein Stück weit in der Klasse verhaftet, aus der man stammt. Christian Baron hat ein – auch für mich persönlich – überaus wichtiges Buch geschrieben. Ein Buch, das einen mitnimmt, durchdringt. Ein Buch, das schmerzt. Ein Buch, das möglichst viele Leser finden sollte. 

Das Thema Armut ist durchaus schambehaftet. Hat dich das Schreiben viel Überwindung gekostet?

Ja, es war unsagbar schwer. Im Kapitalismus wird den Menschen von klein auf eingetrichtert, den Grund für ihre Armut vor allem in eigener Unzulänglichkeit zu suchen. Beschämung ist ein Mittel sozialer Kontrolle. Ich mag zwar meinen Bourdieu und meinen Marx gelesen und dabei vielleicht sogar etwas verstanden haben, aber auch ich bin ein Mann meiner Klasse, und zwar nach wie vor in erster Linie einer „von unten“, den die Beschämung härter trifft als andere. Hätten mich nicht Kollegen in der Redaktion des „Freitag“ und meine Agentin zum Schreiben des Buches ermutigt, dann hätte ich es mir nicht zugetraut. Als dieser Zuspruch wuchs, ging es aber schnell, da sprudelte es nur so aus mir heraus. Von da an war mir klar: Wenn jemand wie ich sich Gehör verschaffen will, dann darf ich keine Furcht haben. Weil ich will, dass endlich wieder mehr Menschen für eine Gesellschaft ohne Armut kämpfen, musste ich schonungslos ehrlich sein und mit offenem Visier schreiben. 

Du hast Armut, Hunger und Gewalt erlebt. Wann ist dir bewusst geworden, dass etwas nicht stimmt in deiner Familie?

In den ersten Jahren meines Lebens hat sich das mir gar nicht ins Bewusstsein gedrängt. Wir waren eine Familie, die sich stark ins Private zurückgezogen hat. Freunde oder Angehörige waren selten zu Besuch. Mein Bruder und ich waren auch nie im Kindergarten, weil unsere Eltern die Gebühren nicht zahlen konnten. Es gab also nur uns und den ewig flimmernden Fernseher als Schaufenster nach draußen. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass es normal sein könnte, öfters mal ins Kino zu gehen, in Urlaub zu fahren oder in Restaurants zu gehen. Dass es ungewöhnlich ist, dass am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist und man deshalb manchmal tagelang fast nix essen kann oder einem immer wieder mal der Strom abgestellt wird. Es war meine Normalität. Bis ich in die Schule kam und nach und nach Freunde fand, von denen manche sogar in Häusern lebten. Da bin ich dann bei Geburtstagsfeiern gewesen, bei denen ich nicht die Treppe hochgehen wollte aufs Klo, weil ich dachte, man landet dann in der Wohnung anderer Leute. Mir fiel jetzt auch auf, dass andere sich ziemlich viel leisten konnten, wovon ich komplett ausgeschlossen war. Da begann das Gefühl des permanenten Mangels und des einfach nicht Begreifens, warum die anderen so viel mehr haben als wir, wo doch mein Vater wie fast alle anderen Väter auch morgens früh zur Arbeit ging und abends total kaputt wieder nach Hause kam. Die Gewaltausbrüche meines Vaters erkläre ich mir heute zum großen Teil aus dieser Erfahrung: Er war das, was man heute „Working Poor“ nennt, er konnte also von seiner Hände Arbeit nicht leben. Das frustrierte ihn, und diesen Frust kanalisierte er leider völlig falsch.

„Die herrschende Ideologie behauptet fälschlich, jeder könne alles aus eigener Kraft schaffen, wenn er sich nur genug anstrenge.“

Dennoch gab es so etwas wie Klassenstolz. Dein Vater etwa wollte auf keinen Fall auf Sozialhilfe, die euch zugestanden hätte, angewiesen sein. Warum?

Ja, Klassenstolz hatte mein Vater, aber leider nicht im marxistischen Sinn. Er wollte also nicht den Kapitalismus überwinden, sondern ein „nützlicher Teil der Gesellschaft“ sein, weshalb er seinerseits nach unten getreten hat. Ich weiß noch, dass er oft von „Assis“ und „Baracklern“ sprach, und damit die meinte, denen es vermeintlich noch schlechter ging als uns, vor allem wertete er Arbeitslose ab. Das Denken in Leistung und Konkurrenz, das einem schon in der Schule beigebracht wird, wirkte auch in ihm. Strukturelle Zusammenhänge konnte er nicht erkennen, eben weil die herrschende Ideologie fälschlich behauptet, jeder könne alles aus eigener Kraft schaffen, wenn er sich nur genug anstrenge.


Es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, in Deutschland gäbe es gar keine Armut. Jeder hätte die Möglichkeit, Grundsicherung zu beziehen, niemand müsse hungern etc. Was entgegnest du solchen Leuten?

Christian Baron
Fotos: Hans Scherhaufer

Wer so etwas behauptet, dürfte noch nie von Hartz 4 gelebt haben. Diese „Grundsicherung“ ist viel zu knapp bemessen. Und die meisten dieser Menschen leben ohne Perspektive, dass sich an ihrer Lage einmal etwas zum Guten ändern wird. Soziale Teilhabe ist völlig unmöglich, oft fehlt es am Geld zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. Und dieses Minimum darf vom Amt auch noch um dreißig Prozent gekürzt werden. Dabei sind Millionen von Hartz-4-Empfängern nicht mal arbeitslos. Vierzig Prozent aller Deutschen kriegen ernsthafte finanzielle Probleme, wenn ihr Auto morgen in die Werkstatt muss oder in der Wohnung irgendwas Größeres kaputt geht. Weil vierzig Prozent der Deutschen keinerlei Ersparnisse haben, absolut nichts. In manchen Schulen in Berlin bringen Lehrer morgens Brot und Milch in die Schule mit, weil viele Kinder morgens blass und mit leerem Magen ankommen. Ich kenne Menschen aus sogenannten sozialen Brennpunkten in Kaiserslautern, die derzeit verzweifeln. Sie leben in Wohnungen ohne Zentralheizung, ohne Warmwasser und ohne Badewanne oder Dusche. Wer Schulden hat, dem wird schnell der Strom abgedreht. Das wirkt sich im Corona-Winter besonders verheerend aus, weil die Menschen oft diese teuren Stromheizungen haben und jetzt nicht nur in finsteren, sondern auch in eiskalten Wohnungen sitzen. Draußen können sie sich nirgends aufwärmen, weil alle Einrichtungen dicht sind. Mitten im reichen Deutschland gibt es also sehr viel Armut, sie ist überall, und es ist eine Schande, dass eine sich auf ihre Demokratie so viel einbildende Gesellschaft die Würde des Menschen derart antastet.

„Später dann gab mir das Selbstbewusstsein der anderen subtil zu verstehen, dass ihnen der Raum mehr gehörte als mir.“

Ebenfalls ein wichtiges Thema in deinem Buch und deiner eigenen Biographie ist Bildungsaufstieg. Wie kamst du als aus einfachen Verhältnissen stammender Student an der Uni zurecht?

Zu Beginn des Studiums stand ich mir noch selbst im Weg. Was ein Tutorium war, wer eigentlich diese „Hiwis“ sein sollten, warum im Vorlesungsverzeichnis bei den Uhrzeiten immer „c.t.“ oder „s.t.“ stand und wie man eine Bibliothek benutzte, das schienen die anderen längst zu wissen. Und wer nicht, der eignete es sich binnen kürzester Zeit an. Während ich noch erstarrte, wenn ich nur das überfordernde Wort „Universität“ am Eingang zum Campus las, verabredeten sich die anderen schon zum gepflegten Kneipenabend. Da war ich erstmal außen vor. Später dann gab mir das Selbstbewusstsein der anderen subtil zu verstehen, dass ihnen der Raum mehr gehörte als mir. Da waren Alltagsbanalitäten. Wenn ich mich zum Beispiel in der Mensa mit neuen Bekanntschaften traf, dann bedachten sie mich manchmal mit einem humorvoll getarnten Tadel, weil ich zu Pommes Frites statt Salat griff. In meiner Kindheit spielte Ernährung nicht die Rolle, die ihr in bürgerlichen Haushalten zugedacht ist. Wir aßen das, was wir uns gerade leisten konnten. Ich hatte an der Uni immer Angst, in diesem Meer aus unausgesprochenen Regeln zu ertrinken. Dazu gesellte sich der Chauvinismus der anderen. Wenn wir an einer Eckkneipe vorbeikamen und einer amüsiert sagte: „Lasst uns mal in diese Assi-Spelunke mit Hartz-4-Säufern gehen!“, dann tat mir das weh. Es dauerte Jahre, ehe ich diesen Studenten ihren Hass auf „die da unten“ vorhalten konnte. Am offensichtlichsten waren für mich aber die strukturellen Benachteiligungen. Ich konnte keine Auslandssemester oder unbezahlte Praktika machen, weil mir erst das Geld und später das Wissen um Stipendienzugänge fehlten. Ich hatte keine Eltern, die mich finanziell unterstützten, sodass ich nach dem Abschluss mit einem Schuldenberg die Uni verließ. Der Graben zwischen den Akademikerkindern und mir wuchs immer weiter an, und inzwischen weiß ich, dass sich daran wohl mein Lebtag nichts mehr ändern wird.

„Es kommt mir manchmal so vor, als hätten die Kollegen ein letztes Geheimnis, zu dem mir der Zugang fehlt.“

Bemerkst du noch heute in deinem Alltag so etwas wie Klassenunterschiede?  

Die nehme ich jeden Tag wahr. Hautberuflich arbeite ich ja als Redakteur der Wochenzeitung „der Freitag“ in Berlin. Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass es in Deutschland kaum Journalisten gibt, deren Eltern nicht studiert haben. In Redaktionskonferenzen habe ich oft das Gefühl, fehl am Platz zu sein und dass den anderen der Raum mehr gehört als mir. Wo sie doch immer so klug und selbstbewusst über Politik und Wirtschaft und Kultur sprechen. Es kommt mir manchmal so vor, als hätten die Kollegen ein letztes Geheimnis, zu dem mir der Zugang fehlt. Und ich Idiot hab keine Ahnung, welches Geheimnis das ist, was dazu führt, dass ich mich in solchen Konferenzen erst recht nur selten zu Wort melde, denn ich warte immer nur darauf, dass jemand entdeckt, wie blöd und unfähig ich in Wahrheit bin. Das ist dieses Hochstapler-Syndrom, das nur Menschen kennen, die in sogenannten bildungsfernen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die ökonomischen Klassenunterschiede sind noch offensichtlicher, weil ich weiterhin engen Kontakt zu meiner Familie habe, in der ich nach wie vor der erste und einzige mit Abitur bin. Wenn es etwa um die Bildungschancen meiner Nichten geht, bleibt mein Einfluss gering, weil der weitere Weg eines Kindes nach wie vor schon am Ende der Grundschulzeit festgelegt wird. Da entscheidet sich, auf welche Schulform es geht. Wer arme Eltern hat, landet nicht auf dem Gymnasium. Besonders belastend waren die Klassenunterschiede vor einigen Monaten nach dem Tod meines Großvaters zu spüren. Der musste vor Jahren seine Sterbeversicherung verscherbeln, was wir Hinterbliebenen nicht wussten und was er offenbar verdrängt hatte. Jetzt mussten wir inmitten der Trauer dreitausend Euro berappen, damit er nicht in einem Armengrab endet, sondern so bestattet wird, wie er es sich gewünscht hat. Da niemand in meiner engeren Verwandtschaft einen Kredit bekäme und auch niemand Ersparnisse anhäufen konnte, erhielt mein Großvater nur deshalb eine menschenwürdige Beerdigung, weil ich einspringen konnte.

„Mir geht es darum, der Kraft der Geschichte zu vertrauen.“

Du wirst bisweilen als deutscher Didier Eribon bezeichnet. Hast du „Rückkehr nach Reims“ gelesen und, wenn ja, hat es dich beeinflusst?

Der Vergleich ist ja meist positiv gemeint, aber ich finde ihn nicht besonders passend. Mein Schreiben unterscheidet sich erheblich von Eribon. Er will vor allem erklären, ich will in erster Linie erzählen. Außerdem schreibt er mit der Autorität des Soziologie-Professors, da entsteht von vornherein eine Kompetenzhierarchie zum Lesepublikum, die es in meinem Fall so nicht gibt. Mir geht es darum, der Kraft der Geschichte zu vertrauen, sie soll aus sich selbst heraus politisch wirksam sein. Da ist eher Annie Ernaux ein Vorbild, die in ihrem Werk besser als wahrscheinlich alle anderen die Literatur und die Autobiografie zusammengebracht hat. Manchmal vermittelt die pure Geschichte mehr klassenpolitische Wahrhaftigkeit als eine wissenschaftliche Abhandlung. „Rückkehr nach Reims“ hat mir aber viel Selbstvertrauen gegeben, als ich es 2016 las. Für Geschichten wie meine war es ein Türöffner. Das Buch verbindet wissenschaftliche Analyse perfekt mit einem autobiografischen Bericht. Und ich bin mir sicher, dass ohne den großen Erfolg dieses Buches kein größerer Verlag mein Buch gedruckt hätte. Das Thema „Klasse“ kommt nun im deutschsprachigen Literaturbetrieb allmählich aus der Schmuddelecke heraus und ist inzwischen sogar „marktgängig“.

Wie kann es sein, dass vermehrt Menschen aus unteren sozialen Schichten heute AfD wählen? Hast du eine Erklärung dafür? Was machen linke Parteien, die ja etwa für ArbeiterInnen-Rechte stehen, falsch?

Es ist ja nicht belegt, dass die AfD vor allem von Menschen aus unteren sozialen Klassenlagen gewählt wird. Sie rekrutiert ihre Zustimmung aus allen sozialen Klassen. Wer arm ist, geht eher gar nicht wählen. Das ist eine Leerstelle in der politischen Debatte, dass sich alle auf die AfD-Wähler stürzen und niemand mehr versucht, die vielen Nichtwähler anzusprechen. Aber es stimmt schon: Der Anteil der Ärmeren, die AfD wählen, ist viel zu hoch, wenn man bedenkt, dass das AfD-Programm nicht nur rassistisch ist, sondern auch neoliberal. An dem Vorwurf, dass die linksliberalen Parteien, insbesondere die SPD und die Grünen, die Anliegen der „einfachen Leute“ missachtet und gegen deren Interessen gehandelt haben, ist sehr viel Wahres dran. Es waren die Sozialdemokraten und die Grünen, die den Sozialstaat abgebaut, einen riesigen Niedriglohnsektor errichtet haben und gleichzeitig die Steuern für die Reichen gesenkt haben. In Bundesländern wie Berlin war wiederum die Linkspartei viele Jahre lang an einer Regierung beteiligt, die den öffentlichen Sektor kaputtgespart und Wohnungen an private Investoren verkauft hat. Sie sind schuld daran, dass sich ein Normalsterblicher dort heute keine Wohnung mehr leisten kann. Das ist ein ganz entscheidender Faktor, wenn man den Aufstieg der Rechten erklären will. Aber es ist eben nur einer von vielen. Es gibt in der Bevölkerung auch einen strukturellen Rassismus, und die AfD schafft es im Gegensatz zu anderen rechten Parteien, sich als im Grunde bürgerliche Partei zu verkaufen. Eine weitere Erklärung scheint mir der pauschale Rassismus-Vorwurf zu sein, der vonseiten linksliberaler Eliten gegen AfD-Wählern vorgebracht wird. Dabei wird niemand als Rassist geboren. Es gab 2008 die große Finanzkrise. Damals wurden binnen kürzester Zeit 500 Milliarden Euro aufgebracht, um den Kapitalismus vor sich selber zu retten. Das heißt, die „einfachen Leute“ haben dem Finanzmarkt den Arsch gerettet. 2015 hat die Bundesregierung entschieden, angesichts der vielen Flüchtlinge, die nach Deutschland wollten, die Grenzen nicht zu schließen. Das war völlig richtig, weil es eine humanitäre Katastrophe verhindert hat. In der Folge musste aber viel Geld aufgebracht werden, um diesen Menschen zu helfen. Und das war nicht das Geld der Wohlhabenden und Reichen, denn wir wissen, dass Großkonzerne wie Apple und Amazon in Europa quasi keine Steuern zahlen. Wenn dann die Gewerkschaften einen deutlich höheren Mindestlohn oder armutsfeste Renten fordern oder verlangen, dass die soziale Ungleichheit in der Corona-Pandemie nicht weiter steigt, dann sagt die Politik: „Wir können nur ausgeben, was zuvor erwirtschaftet wurde.“ Diese Heuchelei führte zu der Ansicht vieler Menschen, die sagen: „Für die ist Geld da, für uns aber nicht.“ Wer der AfD das Fundament entziehen will, darf die Menschen also nicht systematisch gegeneinander ausspielen, wie es die herrschende Politik seit Jahren macht.

Christian Baron
Ein Mann seiner Klasse
Claassen
Januar 2020
288 Seiten
20,- EUR
 

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