50 Jahre nach Allende

Wahlplakat Salvador Allende

Foto: _parzifal_ (flickr.com)

Vom Vorreiter auf dem Weg zum demokratischen Sozialismus zum Reallabor des Neoliberalismus. 

Chile vor fünfzig Jahren – am Morgen des 11. September 1973 nahm die Marine die Hafenstadt Valparaíso ein, während Armee-Einheiten die Stadt Concepción besetzten. In der Hauptstadt Santiago forderte die Armee den ersten auf demokratischem Wege gewählten sozialistischen Staatspräsidenten, Salvador Allende, auf, abzudanken und sich zu ergeben. Währenddessen bombardierten sie den Präsidentenpalast La Moneda.

Allende wandte sich jedoch in seiner letzten Ansprache, die im Radio übertragen wurde, an das Volk: „Ich werde nicht zurücktreten. In eine historische Situation gestellt, werde ich meine Loyalität gegenüber dem Volk mit meinem Leben bezahlen. Und ich kann euch versichern, dass ich die Gewissheit habe, dass nichts verhindern kann, dass die von uns in das edle Gewissen von Tausenden und Abertausenden Chilenen ausgebrachte Saat aufgehen wird. Sie haben die Gewalt, sie können zur Sklaverei zurückkehren, aber man kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen.“ Stunden später war er tot und es endete eine Zeit des Aufbruchs und der Hoffnung auf ein besseres Leben für die vielen – die Arbeiter*innen, die Bäuerinnen und Bauern, die Landlosen, die Armen. Noch am gleichen Tag richtete die Armee im Nationalstadion ein Konzentrationslager für politische Gefangene ein, in dem sie Tausende Linke festhielten, folterten und ermordeten. 

Das Volk tanzte auf den Straßen

Drei Jahre zuvor war dem linken Wahlbündnis Unidad Popular (dt. Volkseinheit) der Sieg gelungen. Der Filmemacher und Zeitzeuge Peter Overbeck beschreibt in seinen Erinnerungen an Chile die Wahlnacht: „Nachdem am 4. September 1970 in Chile zum ersten Mal ein Präsident, der tatsächlich auf der Seite des Volkes stand, gewählt wurde, tanzte dieses Volk auf den Straßen Santiagos die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen.“[1]

Allendes Regierungszeit war geprägt von dem Versuch eine sozialistische Gesellschaftsordnung im Rahmen der parlamentarischen Demokratie aufzubauen. „Obwohl er sich zum Marxismus bekannte, sah er die zukünftige Gesellschaft nicht als Produkt des Klassenkampfes, des Triumphes einer Klasse über die andere und deren Vernichtung, sondern als Resultat einer zunehmenden Mobilisierung des Volkes, dessen Mitbeteiligung an der Politik und einer gerechteren Verteilung der Güter. Er wollte auf dem Weg der Demokratie und der Vernunft zu einer neuen solidarischen Gesellschaft vorstoßen“[2], schreibt Overbeck. Allende begann mit der Vergesellschaftung von Unternehmen und Branchen, die als strategisch für die chilenische Wirtschaft angesehen wurden, wie z.B. den Kupferbergbau, Banken und die Agrarindustrie. Er hatte auch Pläne für ein sozialistisches Landwirtschaftssystem, das die Verteilung von Land an arme Bauern und die Schaffung von Kooperativen beinhalten sollte. Er führte eine Reihe von Maßnahmen ein, die darauf abzielten, die soziale Sicherheit in Chile, einem Land mit extremer sozialer Ungerechtigkeit, zu verbessern. Darunter eine Erhöhung des Mindestlohns und die Einführung von Krankenversicherungen und Renten für Arbeiter*innen. Als einen Schlüssel für die Emanzipation der Menschen sah er den Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung für alle an und setzte sich dementsprechend für die Erhöhung der Bildungsausgaben und die Einführung von Bildungsreformen ein. 

Vor allem die Verstaatlichungen brachten die chilenische Oberschicht und multinationale Konzerne gegen die neue Regierung der Unidad Popular auf. Schließlich hatten sie jahrzehntelang mit der Ausbeutung chilenischer Bodenschätze gutes Geld verdient. Die von Nixon geführte US-Regierung griff daher auf internationaler Ebene ein und erreichte beispielsweise, dass der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die US-Import-Export-Bank keine Kredite mehr an Chile vergaben. Darüber hinaus wurde die chilenische Wirtschaft von reaktionären Kräften aus dem In- und Ausland sabotiert, so dass es schließlich zu Versorgungsengpässen kam, und die Stimmung auf der Straße sich zunehmend erhitzte. Der Putsch, dem eine 17-jährige von schweren Menschenrechtsverletzungen geprägte Diktatur unter General Augusto Pinochet folgte, beendete schließlich das progressive Projekt, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen, abrupt. 

Experimentierfeld des Neoliberalismus

Heute, 50 Jahre später, lässt sich schwer sagen, ob Allendes demokratischer Weg zum Sozialismus erfolgreich gewesen wäre. Das Konzept der sozialen Gerechtigkeit und die Verteilung von Reichtum und Ressourcen sollten zentral für moderne Demokratien sein. Dass heute in Chile noch immer extreme soziale Ungerechtigkeit vorherrscht, ist der Politik der Pinochet-Ära geschuldet. Von der linksregierten Demokratie entwickelte sich das Andenland zum diktatorisch geführten Experimentierfeld des Neoliberalismus. Prägend hierbei waren die Chicago Boys, eine Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, die an der University of Chicago studiert hatten und von den marktradikalen Ideen Friedrich August von Hayeks und Milton Friedmans inspiriert waren. Viele staatliche Unternehmen, einschließlich Kupferminen, Banken und Versorgungsunternehmen, wurden privatisiert und verkauft. Darüber hinaus wurden zahlreiche Regulierungen aufgehoben oder gelockert, Arbeitsgesetze zu Ungunsten der Arbeitenden geändert und Bildungsreformen durchgeführt, um die staatlichen Kosten für Bildung zu senken und die Privatisierung von Schulen und Hochschulen zu fördern. Zwar führten diese Maßnahmen zu einem starken Wirtschaftswachstum, aber eben auch zu einer erhöhten sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und zur Konzentration von Reichtum und Macht in wenigen Händen. Politisch gesehen hat der Neoliberalismus die Entpolitisierung der Gesellschaft vorangetrieben, indem er Ideen, Werte und Überzeugungen wie Individualismus und Wettbewerbsfähigkeit gegenüber kollektiver Organisation und Klassensolidarität massiv förderte, und das Primat des Marktes den Staat in einen technokratischen Apparat verwandelt. 

Auch die Bildungsreformen nach dem Putsch haben das heutige chilenische Bildungssystem erheblich beeinflusst. Ein großer Teil des chilenischen Bildungssystems wurde privatisiert, was zu einer erhöhten Kostenbelastung für Familien und zu einer zunehmenden sozialen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit im Bildungssektor geführt hat. Schulgebühren für Familien sind gestiegen sind, viele Menschen haben keinen Zugang mehr zu Bildung. Darüber hinaus gibt große Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten Schulen in Bezug auf Ressourcen und Qualität. Dementsprechend gering ist die soziale Mobilität in Chile. Aufstieg durch Bildung ist kaum möglich. 

So waren die Studierendenproteste ab 2011 nur allzu verständlich. Während diese Proteste mit der Unzufriedenheit über das privatisierte Bildungssystem begonnen hatten, stellten die Protestierenden schnell ihre Forderungen auch in den Kontext der zunehmenden Neoliberalisierung Lateinamerikas. Etwa 80 Prozent der chilenischen Bevölkerung unterstützen die Proteste. 

Neue Hoffnung?

Nach der Wahl des linken Kandidaten Gabriel Boric 2022 blühte neue Hoffnung auf. Hoffnung auf eine Wende, die mit dem Generationenwechsel in der chilenischen Politik einhergeht. Mit zum Wahlzeitpunkt 36 Jahren ist Boric der jüngste Präsident in Chiles Geschichte. Kann er vielleicht gar das von Salvador Allende begonnene Werk fortsetzen? Er selbst kündigte das Ende des Neoliberalismus in Chile an: „Wenn Chile die Wiege des Neoliberalismus war, dann kann es auch das Grab sein. Aber eines auf dem alle Blumen blühen.“ Allein die Zusammenstellung seines Kabinetts schien die Hoffnungen zu bestätigen: 14 seiner 24 Minister*innen waren Frauen, eine Klimawissenschaftlerin besetzte das Umweltministerium, eine Feministin das Frauenministerium und das Verteidigungsministerium ging an Maya Fernández Allende, Enkelin Salvador Allendes. 

Heute muss man jedoch ernüchtert feststellen, dass die in den letzten Jahrzehnten herrschende marktliberale Ideologie wohl nicht so schnell zu Grabe getragen werden wird. Borics Koalition ist ein breites Bündnis, jedoch verfügt es nicht über eine Mehrheit im Kongress. Im September des letzten Jahres stimmte die Regierung einem weiteren Freihandelsabkommen zu, Kritiker*innen werfen ihr vor, den progressiven Kurs bereits verlassen zu haben. Auch die ersehnte Verfassungsänderung, die unter anderem ein Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit vorsah, eine Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen einführen und den indigenen Gemeinschaften ein Selbstbestimmungsrecht einräumen sollte, wurde von den Chilen*innen in einem Plebiszit abgelehnt. Profiteur ist die extreme Rechte. Im Frühjahr erlangte diese überraschend die Mehrheit über den neuen Verfassungskonvent.


[1] Peter Overbeck: Santiago, 11. September. Erinnerungen an Chile. Hamburg 2008. Edition Nautilus. S.8

[2] Ebenda: S.9

Foto: parzifal (flickr.com)

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